Sie gaben KZ-Kindern Liebe, Hoffnung und Sprache
Veröffentlicht am 6.4.2010 in der Augsburger Allgemeinen Zeitung
Von Miriam Zissler
„Blöder Ochs, Gertrud!“, „blöder Ochs, Sophie!“ Es ist zum einen sprachlich falsch und zum anderen nicht besonders nett, so mit Gertrud und Sophie zu sprechen. Aber 1945 wussten es sechs Kinder nicht besser. Mehr hatten sie nicht gelernt im KZ Theresienstadt. Sie waren zwischen drei und vier Jahre als, als sie nach ihrer Befreiung in die Obhut der aus Augsburg stammenden Jüdinnen Sophie und Gertrud Dann kamen.
3000 Kinder wurden nach Kriegsende in Theresienstadt gezählt. 3000 Kinder, die keine Eltern mehr hatten, ihre Verwandten kaum oder gar nicht kannten. Kinder, die noch nie etwas Richtiges gegessen hatten, die nur ein paar Brocken Deutsch und Tschechisch konnten. England erklärte sich bereit, 1000 Waisenkinder aufzunehmen.
Die jüdische Psychoanalytikerin Anna Freud, Tochter des berühmten Sigmund Freud, nahm sechs Kinder auf. Gertrud und Sophie Dann halfen ihr bei der Betreuung. Die beiden Schwestern hatten 1939 Augsburg verlassen.
Die Jüdinnen, die zusammen mit ihren Eltern und zwei weiteren Schwestern in der Hochfeldstraße im Bismarckviertel aufgewachsen waren, flohen nach England. In einem Essay „Beobachtungen an Kleinkindern bei der Anpassung an eine neue Sprache“ hielt Sophie Dann, damals 45 Jahre alt, die sprachlichen Entwicklungen der Kinder in den ersten Monaten fest.
Marie-Luise Bertram erzählt diese Geschichte mit fester Stimme. Schon oft hat sie davon erzählt, sich mit dem Lebenslauf der Familie auseinandergesetzt. Die Geschichten Augsburger Frauen begleiten sie bereits eine ganze Weile. Gemeinsam mit einer Handvoll Mitstreiterinnen hat sie im Frauen-Geschichtskreis Augsburg schon einiges bewegt. Frauengeschichte in der Maximilianstraße, im Lechviertel, Frauen in Politik und öffentlicher Verantwortung oder Frauen und Geld ab der beginnenden Neuzeit heißen die Führungen, die von der Gruppe organisiert werden.
Sie haben ein Frauenlexikon publiziert, liegen in den letzten Zügen für einen Stadtplan, der Stationen und Orte von bedeutenden weiblichen Persönlichkeiten Augsburgs aufzeigt. Sie hatten die Idee, der Widerstandkämpferin Anna Pröll eine Gedenktafel zu widmen. Bald nun wird eine neue Gedenktafel angebracht: für die Geschwister Dann.
Das hat sich Marie-Luise Bertram zu ihrem 80. Geburtstag gewünscht. Eigentlich hätte die Tafel am ehemaligen Wohnhaus der Familie angebracht werden sollen. Doch das wollten die Eigentümer nicht. Jetzt wird sie am Haus Bertrams, das sich ebenfalls in der Hochfeldstraße befindet, befestigt. „Ich habe die anderen Wohnungseigentümer gefragt und sie haben alle sofort ihr Einverständnis gegeben. Das war überhaupt kein Problem“, sagt sie. Sie könne das Sich-Verschließen vor wichtigen Themen nicht verstehen, Desinteresse schon gleich gar nicht. „Wenn wir als kleine Arbeitsgemeinschaft so viel erreichen können, was könnten dann erst große deutsch-jüdische Vereinigungen bewirken?“, fragt sie sich.
Marie-Luise Bertram freut sich auf die Tafel, die an das Leben und die Lebensleistung der Schwestern erinnert. Für die Kinder waren die Augsburgerinnen ein Segen. Die Schwestern skizzierten die sprachlichen Fortschritte in den ersten Monaten. Am längsten wurde der „blöde Ochs“ als Ansprache verwendet.
Erst als das Vertrauen und die Zuneigung nach einigen Monaten wuchsen, ändert sich das. „Mein“ wurde zu einem Begriff größter Zärtlichkeit, sie sprachen die Schwestern nun mit „meine Gertrud“ und „meine Sophie“ an.
Es war das Wort, das die Kinder am längsten beibehalten sollten. Sophie Dann schrieb in ihrem Essay: „Je geborgener sie sich in ihrer neuen Umgebung fühlten, desto leichter fiel es ihnen, sich die Sprache dieser Umgebung anzueignen. Umgekehrt war es offenbar, dass ihnen das Hineinwachsen in die neue Sprache eine weitere Hilfe war, von den negativen Einflüssen, die ihre frühe Kindheit so schwer belastet hatten, zunehmend Abstand zu gewinnen.“
Später sagte sie einmal über diese Zeit: „Es war die lohnendste Arbeit, die ich in meinem Leben geleistet habe“.